Willomitzer, Joseph

Josef Willomitzer, online: http://www.historiebnpl.cz.
Joseph
Willomitzer
17.4. 1849
Benešov nad Ploučnicí (früher Německý Benešov) / Bensen
3. 10. 1900
Prag
Journalist, Schriftsteller, Redakteur

Besuchte das Gymnasium in Eger. Ab 1869 arbeitete er in der Redaktion des Blattes Bohemia, 1877 war er zusammen mit Josef Walter Chefredakteur, ab 1888 leitete er die Zeitung allein. Er beteiligte sich aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben Prags teil (er gehörte zur Strömung des deutschen liberalen Nationalismus), war Mitglied des Vereins deutscher Schriftsteller Concordia und beteiligte sich an der Tätigkeit des Cabarets Orpheus. Er war führender Verfasser humoristischer Texte, am Theater in Prag wurden drei seiner kürzeren Texte gespielt (Komödieneinakter Die Kritik der reinen Vernunft).

Sohn eines Gerichtsbeamten (Justiziars). Kurz nach seiner Geburt wurde der Vater als Staatsanwalt nach Cheb (Eger) versetzt, wo W. aufwuchs. Hier besuchte er zunächst das Gymnasium. Aus existenziellen Gründen (als er in der Sexta war, starb sein Vater) musste er jedoch den Schulbesuch abbrechen und wurde als Aushilfe zu dem in Františkovy Lázně (Franzensbad) und Cheb ansässigen Buchhändler und Besitzer der Egerer Zeitung Josef Gschihay gegeben. W.s außergewöhnliches journalistisches und literarisches Talent wurde von einem Freund seines Vaters, dem damaligen Chefredakteur der nationalliberalen Tageszeitung Bohemia Franz Klutschak, entdeckt. Auf Klutschaks Einladung hin ging W. 1869 nach Prag und begann in der Redaktion der Zeitung zu arbeiten (1884 verfasste er eine belletristische Beschreibung der Polarexpedition von Klutschaks Sohn Heinrich, siehe Lit.). Klutschak schied zum 10. 10. 1877 aus der Position des Chefredakteurs aus, woraufhin W. den Posten zusammen mit Josef Walter übernahm. Nach Walters Selbstmord (1888) leitete er die Zeitung allein weiter (er verfasste Leitartikel wie auch Beiträge für alle anderen Rubriken des Blatts). Darüber hinaus redigierte er die vom Verlagshaus Haase herausgegebenen Verlagskalender (Haase´scher Haus und Wirtschafts-Kalender (1879–1896) und Neuer Prager Kalender für Stadt und Land auf das Jahr…), für die er auch Beiträge verfasste. Seinen soliden gesellschaftlichen Status besiegelte W. 1885 durch seine Heirat mit der Tochter des Bildhauers und Memoirenautors Emanuel Max von Wachstein.

W. beteiligte sich aktiv am gesellschaftlichen und kulturellen Leben der deutschen Einwohnerschaft Prags (so z. B. im Deutschen Schulverein, in der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag wie auch im satirischen Verein Orpheus). Darüber hinaus war er Leiter des Vereins Schillerstiftung (1882). Als Mitglied des Prager deutschen Schriftstellerverbands Concordia gehörte er (wahrscheinlich schon ab 1871, zusammen mit F. Adler, J. Bayer, A. Klaar, Ottomar Keindl, H. Salus, H. Teweles bzw. E. Faktor d. J.) zu den Schlüsselfiguren wie auch zu den beliebtesten Persönlichkeiten der Prager deutschen Literaturszene im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Im Deutschen Casino Prag (in der Straße Na Příkopě) organisierte er Vorträge von Gästen aus verschiedenen Teilen Österreichs (L. Anzengruber, L. A. Frankl) wie auch aus Deutschland (L. Büchner, F. Dahn, W. H. Riehl). Von der damaligen antisemitischen Propaganda in Böhmen  wie auch von der späteren Fachliteratur wurde er – wohl aufgrund seines Nachnamens – unbegründet als Jude bezeichnet. 1888 kandidierte er bei den Ergänzungswahlen in Prag erfolglos für die vereinigte deutsche Kandidatenliste der Deutschen Fortschrittspartei. Als er nach kurzer Krankheit starb, wurde er unter großer Beteiligung des deutschsprachigen Prag auf dem Friedhof Prag-Olšany begraben. Im Oktober 1937 wurde in W.s Geburtsort Benešov nad Ploučnicí ein Bronzegedenkstein enthüllt, der nach 1945 spurlos verschwand.

W.s literarische Betätigung begann bereits in  Cheb (Eger), wo er in der Egerer Zeitung und später auch in der Zeitschrift Egeria humoristische Prosa, Gedichte und Aphorismen veröffentlichte. Er schrieb Beiträge für mehrere Zeitschriften, Almanache und Sammelbände (Fliegende BlätterHidigeigeiNord und SüdPrager Dichterbuch, 1894 u. a.) und wurde allmählich zu einem der führenden humoristischen Autoren im deutschsprachigen Böhmen, der auch im deutschen Sprachraum insgesamt anerkannt war. Ein beliebtes Objekt seiner Satire waren tschechisch- wie auch deutschsprachige Figuren unentschlossener Kleinbürger, Philister und unglücklich Liebender, die er mit viel Sinn für sprachliche Komik und voll satirischer Kritik an der phrasenhaften Konversations-, Politik- und Amtssprache aufs Korn nahm. In Bezug auf die zeitgenössische gesellschaftliche und politische Situation in Österreich und Böhmen parodierte W. vor allem die Unentschlossenheit der österreichischen Regierung gegenüber den steigenden politischen und kulturellen Ansprüchen der nichtdeutschen Bevölkerungsteile, insbesondere der Tschechen, Polen und Slowenen. Das aus seiner Feder stammende Lecherlied, das die parlamentarischen Obstruktionen des Abgeordneten Otto Lecher zur Zeit der Badenischen Sprachverordnungen karikiert, wurde im deutschnationalen Lager populär. Zusammen mit den allegorischen Kompositionen Stoß an, du blasser Junge bzw. Wir schielen nicht, wir schauenHin nach Pragien, hin nach Pragien wurde sie Teil des Liederrepertoires studentischer Burschenschaften mit radikaler, pangermanischer und antisemitischer Gesinnung. Trotz seiner Sympathien für den Deutschnationalismus waren ihm antisemitische Themen fremd und in jüdischen Kreisen hatte er eine Reihe von Freunden (so widmete ihm z. B. Adolph Kohut sein Buch Kaiser Josef II., Sein Wirken als Mensch, Dresden 1890). Er war allerdings deutlich antitschechisch und antislawisch eingestellt. So war z. B. sein fingiertes und mit eigenen Zeichnungen versehenes Fragment Allerneueste Königinhofer Handschrift: tschechische Geschichten aus Tausend und Einer Nacht eine scharfe Reaktion auf die tschechischen Streitigkeiten über die Echtheit der Königinhofer Handschrift (Rukopis královédvorský). Für die in München erscheinende Zeitschrift Münchner Jugend verfasste er (unter Pseudonymen) Satiren auf die tschechischen politischen Bestrebungen, die recht stereotype Vorstellungen über die kulturelle Rückständigkeit der Tschechen und ihre klerikal-politischen Loyalitäten enthalten.

Am Prager Theaterleben war W. eher hinter den Kulissen, in Form seiner gesellschaftlichen Kontakte, beteiligt: Zweifelsohne wurden einige wichtige Theaterpersönlichkeiten in ihren Ansichten von ihm beeinflusst, so z. B. sein Freund Heinrich Teweles, damals Schauspieldramaturg am Prager deutschen Theater (1887–1900), der Schauspielkritiker Friedrich Adler oder auch Alfred Klaar, der nicht nur Theaterkritiker und -theoretiker, sondern auch ein einflussreiches Mitglied des Deutschen Theatervereins in Prag war. Wenig ist über W.s Tätigkeit im Prager Verein bzw. Kabarett Orpheus bekannt, das offenbar ab Beginn der 70er-Jahre in der Spálená ulice tätig war. Kleinere Texte W.s finden sich aber z. B. auch in den Programmen des Berliner Kabaretts Buntes Theater Überbrettl, das vom 12. bis 16. Mai 1901 in Prag gastierte. Ein Beleg für W.s beträchtlichen, wenn auch wenig sichtbaren, Einfluss ist die Tatsache, dass das Prager deutsche Theater nach seinem Tod, am 2. Februar 1901, ihm zu Ehren einen Trauerabend organisierte.

Am Prager deutschen Theater wurden drei Texte W.s gespielt, wobei zwei davon für konkrete Anlässe verfasst worden waren. Neben dem „Silvester-Scherz“ Prosit Neujahr! (1893) und einem Festspiel zum 25. Jubiläum des deutschen Turnvereins (Gut heil!, 1892) wurde seine einaktige Konversationskomödie Die Kritik der reinen Vernunft (1880) aufgeführt, in der es um das Werben zweier Männer um eine verheiratete Dame geht, das vom Ehemann der verführten, doch treu liebenden Gattin auf großmütige Art beendet wird. Das Stück wurde zweimal wiederaufgenommen (1887 und 1898 – gespielt wurde es noch 1901 –) und am 18. 12. 1921 von einem Prager deutschen Amateurtheaterverein erneut in Szene gesetzt.

Theatralia

Die Kritik der reinen Vernunft, Komödieneinakter, UA 10. 4. 1880 am Deutschen Landestheater (Rezension gt. [V. Guth], Deutsche Bühne, Politik 14, 1880, Nr. 100, S. 6, 11. 4.). In der Zeitung Bohemia vom 3. 10. 1900 (S. 2) findet sich eine Nachricht über eine Vorstellung am Wiener Stadttheater.Gut heil! Festspiel (dem Prager Deutschen Turnverein gewidmet), UA zum 25. Gründungsjubiläum des Vereins am 19. 3. 1892 im Neuen Deutschen Theater. Der Text ist nicht erhalten.Prosit Neujahr! Silvester-Scherz, UA 31. 12. 1894 am Deutschen Landestheater. Der Text ist nicht erhalten.(Erwähnt in: Übersicht über die Leistungen der deutschen Böhmens auf dem Gebiete der Wissenschaft, Kunst und Literatur im Jahre 1894, Prag 1895, S. 153)

Literarisches Werk (Auswahl)

Ein deutsch-österreichischer Eskimo, Erlebnisse Heinrich W. Klutschaks, eines Theilnehmers der letzten Franklin-Aussuchungs-Expedition, Prag – Leipzig 1884Allerneueste Königinhofer Handschrift – Nejnovější rukopis Královédvorský – Tschechische Geschichten aus Tausend und Einer Nacht, Sammelbd., Hrsg.: Felix Bagel, Düsseldorf [1890], S. 535–572Heitere Träume. Scherzgeschichten, 1882 (2. erweiterte Ausgabe Berlin 1903), erster von mehreren, bis 1900 veröffentlichten Sammelbänden mit literarischen Kurztexten. – Posthum: Humoresken in Vers und Prosa, Hrsg.: Robert Reinhart, Leipzig 1908 (mit einem Porträt); Das Geheimnis des Schutthaufens und andere Humoresken, Leipzig 1909; Eine Nacht im Mittelalter und andere Geschichten, Leipzig 1911 (= Reclam´s Universalbibliothek, Nr. 5340); Josef Willomitzer's lustiges Erbe, Hrsg.: Josef Armin Hegenbarth, Böhm. Leipa 1938

Redaktionstätigkeit

Haase ‘scher Haus und Wirtschafts-Kalender (Prag 1879–1896)Neuer Prager Kalender für Stadt und Land auf das Jahr 1886–1900 (in der Ausgabe 1887 Artikel „Die Königinhofer Handschrift“)

Quellen

Národní archiv, Verzeichnis des Polizeipräsidiums I, Karton 694, Abb. 890. Polizeiliche Meldung in Prag zum 8. 2. 1870. Vermerk über W.s Trauung in der Prager Heinrichskirche. – Briefe aus dem Nachlass von K. E. Franzos, Ludwig Anzengruber u. a. (W. Bibliothek im Rathaus), siehe http://www.wienbibliothek.at/, 1 Brief aus dem Jahr 1880 im Nachlass V. Guths (LA PNP Prag)

Periodika

A. K. [Klaar], Deutsches Landestheater, Bohemia 11. 4. 1880, Nr. 1012. S. 6 (Rezension zum Stück Die Kritik der reinen Vernunft). – Nachrufe: Čas 4. 10. 1900, S. 4; Bohemia 3. 10. 1900, Abendausgabe, S. 1–3 (Begräbnis Bohemia 6. 10. 1900; Lidové noviny 8, 1900, Nr. 226, S. 5, 4. 10.; Národní listy 3. 10. 1900, S. 2, Nachmittagsausgabe; Politik 3. 10. 1902, S. 2. – A. Paudler in Mittheilungen des Nordböhmischen Excursions-Clubs 24, 1901, 105–106. – A. Klaar, in: Deutsche Dichtung (Hrsg.: K. E. Franzos), Bd. 29, 1901, S. 146–149; E. Faktor, Das literarische Echo 1901, S. 217. –  E. F. [E. Faktor], Bohemia 6. 12. 1901, Beilage, S. 1 (Rezension Letzte Geschichten und Gedichte von J. W.). – A. Klaar, Erinnerungen, Bohemia 1. 1. 1902, Beilage 1, S. 3. –  E. F. (Faktor), Rezension zu Heitere Träume, Bohemia 6. 12. 1902, Beilage S. 1.;  E. Bilý: Německý „satirik“, Venkov 24. 9. 1913, S. 9. – J. Stern: Neunzig Jahre Bohemia. Allerhand Erinnerungen, Bohemia 1. 1. 1918, S. 4–6. – A. Klaar: Aus den Tagen meines Bohemia-Beginns, Bohemia 30. 1. 1927, Beilage S. 4.

Literatur

R. Reinhard, in: Eine Nacht im Mittelalter und andere Geschichten, 1911, S. 3 (mit einem Porträt);H. T. [H. Teweles]: Erinnerungen an Josef Willomitzer, Prag 1922 (mit Faksimiles von Gedichten W.s, die dem Autor gewidmet sind); R. Wolkan: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern, Augsburg 1925, S. 93.B. Hlaváč: Postavy ze staré Prahy, Praha 1931, S. 78; J. A. Hegenbarth in: Josef Willomitzer's lustiges Erbe, Böhm. Leipa 1938, S. 5.

Blumsberger, Brümmer, EBL, Jaksch, Kleines Literaturlexikon, Otto


Bildung: 30.11.2012

Autor: Petrbok, Václav