Seligmann
Helle
8. 7. 1831
Roudnice nad Labem / Raudnitz (CZ)
8. 1. 1890
Wien (A)
Theaterkritiker, Dichter, Publizist, Übersetzer, Pädagoge

Wurde in einer deutsch-jüdischen Familie geboren, studierte in Wien. Neben der literarischen und übersetzerischen Tätigkeit widmete er sich der Theaterkritik: 1867–72 referierte er in der Prager Tageszeitung Bohemia, 1872-73 schrieb er für die Wiener Deutsche Zeitung. In seinen Kritiken stellte er einen breiten kulturellen Horizont unter Beweis und war durch seine hohen Ansprüche an das Kunstwerk und seine fehlende Bereitschaft, sich dem Mehrheitsgeschmack zu beugen, bekannt.  

In der Literatur wird er mit dem Verleger Samuel Heller (1839–1906) und dem Komponisten Stephen Heller (1813–1888) verwechselt.
Er wurde in einer deutsch-jüdischen Familie geboren. Sein Vater war Bäcker, seine Mutter starb früh. H. besuchte die öffentliche jüdische Schule seines Geburtsortes und kam als Dreizehnjähriger nach Prag, wo er die Talmud-Thora-Schule besuchte; sein Lehrer war der Prager Oberrabbiner S. J. Rapoport, ein Anhänger der jüdischen Aufklärungsbewegung Haskala.  Danach ging er ans Alt-Städter Gymnasium und widmete sich insbesondere der klassischen Philologie und modernen Sprachen. Schon damals übersetzte er aus dem Lateinischen, dem Französischen und dem Italienischen, seine ersten dichterischen Versuche (ab 1844) schrieb er in hebräischer Sprache. Er begrüßte begeistert das Revolutionsgeschehen 1848, und so berief ihn sein Vater lieber nach Hause ab. Anfang der fünfziger Jahre kehrte er nach Prag zurück und legte die Reifeprüfung am Kleinseitner Gymnasium ab, wo er das Sprachenstudium fortsetzte (zu den vorherigen kam noch Englisch hinzu). Er hatte hier Kontakt zu J. Neruda (dieser bestätigte später, dass H.s Identifikation mit dem Judentum zu seinem tschechischen Bewusstsein beigetragen habe) und zu dem Schriftsteller M. Reich. Nach dem Abitur (1853) studierte er an der Wiener Universität Philosophie, klassische Philologie, Geschichte und später auch Jura. Er beendete sein Studium nicht, 1858 erkrankte er plötzlich an einer Augenkrankheit und kehrte nach Böhmen zurück. Er lebte bei seinem Vater in Leitmeritz, der die dortige Brauerei gepachtet hatte. Nach dem Tode seines Vaters (1861) leitete H. die Brauerei dann noch zwei Jahre. 1863 zog er nach Roudnice und heiratete Barbora, geb. Bodascher, 1866 wurde die Ehe geschieden. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, richtete er in Leitmeritz ein Pensionat ein, das während des preußisch-österreichischen Krieges zerstört wurde. Zu dieser Zeit gab er seine erste Gedichtsammlung heraus, das dichterische Epos Ahasverus (1865). Im Folgejahr zog er nach Prag, unterrichtete profane Fächer an der Talmud-Thora-Schule und war kurzeitig Lehrer an einer Handelsakademie, 1871–72. Er unterhielt Kontakte zu dem Ästhetiker, Kritiker und Publizisten J. Bayer, dem Theaterkritiker und Dichter A. Klaar, dem Publizisten und Herausgeber des Tagesboten aus Böhmen D. Kuh und besuchte den Salon von K. Busch (geb. Rapoport). Auf Empfehlung von F. Klutschak wirkte er 1867–72 als Theaterreferent der Tageszeitung Bohemia. Vor dem Weggang nach Wien (Oktober 1872) empfahl er A. Klaar als seinen Nachfolger. In Wien war er zuerst Feuilletonist bei der Deutschen Zeitung (1872–73; zusammen mit F. Kürnberger), dann unterrichtete er deutsche Sprache und Literatur an der Handelsakademie. In Wien unterhielt er Kontakte zu dem jüdischen Gelehrten D. Kaufmann, der ihn finanziell unterstütze und sein dichterisches Werk herausgab. Mitte der siebziger Jahre wurde H. wegen Beleidigung der römisch-katholischen Religion strafrechtlich verfolgt, doch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Gegen Ende seines Lebens lebte er zurückgezogen. Sein Sohn Arnold Heller (1864–1925) wurde ein anerkannter Zahnarzt.

Den Schwerpunkt von H.s literarischen Werk bildeten vor allem Poesie sowie das Prosa- und Übersetzungsschaffen. Der Theaterkritik und -publizistik widmete sich H. unsystematisch und nach eigenen Aussagen nur aus Existenzgründen. In Theaterreferaten konnte er seine tiefgreifenden Kenntnisse der Ästhetik, der Philosophie und der Literatur- und Theatergeschichte anwenden (klassische griechische Dramatik, das Werk Shakespeares, Lessings und Schillers). Er legte besonderen Wert auf die Harmonie der schauspielerischen Verkörperung der Rolle und der Idee des Stücks („einen Künstler charakterisiert die Konzeption, einen Manieristen die Imitation“). Sein kritisches Credo formulierte er erst vor seinem Weggang nach Wien; in dem Aufsatz Der Theaterkritiker und sein Verhältniß zu Publicum und Schauspielern betonte er seine fehlende Bereitschaft, sich durch Auswahl des Repertoires und die schauspielerischen Leistungen dem Mehrheitsgeschmack zu beugen. Er stand neuen künstlerischen Strömungen aufgeschlossen gegenüber, er versuchte beispielsweise, die Dramen von L. Anzengruber durchzusetzen. H.s hohe ethische Ansprüche an ein Kunstwerk, das Postulat der formalen Perfektion, die Vehemenz des kritischen Urteils, Unnachgiebigkeit und meinungstechnische Unabhängigkeit imponierten seinen Zeitgenossen, z. B. A. Klaar. Gleichzeitig jedoch wurden H.s Texten eine gewisse stilistische Veraltetheit und auf logische Ungereimtheiten vorgeworfen; er selbst wurde zur Zielscheibe von Satire und Spott (wiederholt 1873–74 in den Zeitschriften Figaro und Bombe). Das Pamphlet Eine poetische Gabe oder Seligmann Heller als Lyriker war anscheinend die Rache eines Teils der Prager Theaterkreise; die Publikation war dem Vertreter von Heldentypen E. Sauer gewidmet, dessen Kreationen H. mehrmals kritisiert hatte. Von den Schauspielerinnen machte sichH. vor allem J. Gallmeyer (Vorwürfe wegen Extempore) und A.Versing-Hauptmann (durch Kritik an der trivialen Auffassung der Titelrolle von Grillparzers Sappho, 1869) zu Feindinnen. In Wien schrieb er vor allem über die Schauspielproduktion des Stadttheaters.
H. ist der Autor eines einzigen Dramas, des historischen Stücks von der tragischen Liebe des Herodes und der Mariamne Die letzten Hasmonäer, für das er den Stoff aus der jüdischen Geschichte nach J. Flavius nahm (Židovské starožitnostiJüdische Altertümer). In dieser Tragödie äußerte er seine Überzeugung, dass ein Zusammenleben von Juden und Christen möglich sei. Er gab das Stück in eigener Auflage heraus, aufgeführt wurde es anscheinend nicht.  

Chiffren

S. H. 

Quellen

NA Prag: Fonds Matrikel der jüdischen Religionsgemeinden in den böhmischen Bezirken 17841949 (1960), Inv.-Nr. 1802, Roudnice nad Labem, Repr. 13. ÖNB Wien: Briefe an den Theaterkritiker und Publizisten R. V. Wagner. WBR Wien: einzelne Briefe an L. A. Frankl, F. Grillparzer, K. A. Franzos.

Theatralia

Bohemia (Prag) 6. 8., 24. 12. 1867, 30. 1. 1869 [Benefiz A. Versing-Hauptmann], 30. 12. 1871, 31. 7. 1872 + 2. 8. 1872 + 3. 8. 1872 [Gastspiel J. Gallmeyer im Neustädter Theater], Der Theaterkritiker und sein Verhältniß zu Publicum und Schauspielern, 9. 8. und 10. 8. 1872; Schiller und Goethe als Lyriker, in Jahresbericht über den Zustand der Prager Handelsakademie während des Studienjahres 1871–72, Prag 1872, S. 3–14; Deutsche Zeitung (Wien) 6. 4., 9. 4. 1873 [Bürger, Schiller und Goethe als Lyriker, Schillers Freiheitskampf in seinen Tragödien]. 

Stück

Die letzten Hasmonäer, gedr. Prag 1868.

Literatur

Prager Abendblatt 3. 2. 1869; Prager Tagblatt 27. 7. 1878 [Reaktion A. Versing-Hauptmann]; H. Weiser: Eine poetische Gabe oder S. H. als Lyriker, Prag 1871; Bohemia (Prag) 23. 3. 1890; Allgemeine Zeitschrift des Judentums (Berlin) 54, 1890, S. 36; 55, 1891, S. 81–83; 57, 1893, S. 18–19 [H.s kritisches Wirken]●; Nachrufe: Neue Freie Presse (Wien) 9. 1. 1890; Wiener Zeitung 9. 1. 1891; Národní listy (Praha) 10. 1. 1890; Die Neuzeit (Wien) 10., 17., 24. 1. 1891●; Oesterreichische Wochenschrift (Wien) 7, 1890, Nr. 3, S. 43–45; A. Klaar: Erinnerungen. Zum Gedenktage der Bohemia, Bohemia (Praha) 1. 1. 1902, S. 3 + Aus meiner ersten Bohemia-Zeit, ebenda 25. 12. 1910; F. Mauthner: Erinnerungen. 1. Prager Jugendjahre, München 1918, S. 194–196; L. Geiger: Jüdische Denker und Dichter. S. H., Allgemeine Zeitschrift des Judentums (Leipzig) 83, 1919, S. 68–70; K. Benedikt: Erinnerungen an S. H., Der Prager Lessing, Neues Wiener Journal 6. 2. 1922, S. 8; H. Teweles: Theater und Publicum, Prag 1927, S. 11–12; W. Klimbacher: Revolutionshoffnungen und akkulturative Gesten: S. H., Mnemosyné (Münster–Hamburg), 1998, Bd. 24, S. 91–99; M. Thulin: Kaufmanns Nachrichtendienst: Ein jüdisches Gelehrtennetzwerk im 19. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 97–99.

Blumesberger, Brümmer, Heuer, HLW (Seligmann Heller, Samuel Heller – Angaben vermischt), Nagl, NDB, ÖBL 


Bildung: 2016

Autor: Petrbok, Václav