Bichler, Minna

Minna Bichler in einer unbekannten Rolle. Prager Theaterbuch 1930, Bibliothek des Theaterinstituts in Prag.
Minna
Bichler
1858
Klagenfurt am Wörthersee (A) [?]
nach 1930
Prag (Praha, CZ)
Schauspielerin

Tochter der Schauspielerin Elise Quandt-Bichler. Als Schauspielerin debütierte sie in Pest (1873). 1876 engagiert im Ensemble des deutschen Schauspiels am Ständetheater Prag. War eine der ausdrucksstärksten Schauspielerinnen und konnte viele sehr unterschiedliche Rollen spielen. 1894 verkörperte sie die Titelrolle in der Prager Premiere von Hauptmanns Drama Hanneles Himmelfahrt. 1896 verließ sie nach ihrer Eheschließung mit dem Prager Industriellen und Mäzen Alexander Richter (1843–1914) das Theater.

Hieß eigentlich Wilhelmina. Tochter der Schauspielerin Elise Quandt, verheiratete Bichler. Die Namen Bichler und Quandt kommen in männlicher und weiblicher Form im mitteleuropäischen Theaterwesen öfters vor (Mannheim und Altenburg 1846, Pest 1846/47 Wilhelmine Qu. im Engagement, 1853 Lübeck usw.), wobei sich einzelne Persönlichkeiten voneinander nicht genau unterschieden. Die Mutter von Minna B. kann man mit Sicherheit 1857 als Mitglied des Theaters in Klagenfurt (Deutscher Bühnenalmanach) identifizieren. Ab 1858 taucht sie für einige Jahre nicht mehr auf, erst im Dezember 1863 ist sie im Ensemble des deutschen Theaters in Pest angeführt, wo sie bis 1872 blieb (Deutsches Aktientheater). Ihre nächste bislang ermittelte Wirkungsstätte war das Hoftheater in Karlsruhe (vermutlich ab 1873). Seit den Siebzigerjahren wirkte auch ihre zweite Tochter, deren Vorname unbekannt ist, am Theater (1885 am Carl-Theater in Wien, berichtete Der Humorist am 20. 10. 1885).

B. wuchs im Theatermilieu auf. Die Mutter vermittelte ihr die ersten Gastauftritte 1873 in Pest. Es folgten ein Engagement am Berliner Residenztheater (1874/75) und ein Angebot aus Hamburg (Thalia-Theater), das B. ablehnte, um nach Dresden (Residenztheater 1875/76) überzusiedeln. Im April 1876 nahm sie der neue Direktor des Ständetheaters Eduard Kreibig als naive und sentimentale Liebhaberin ins Ensemble auf. Sie trat gleich in Kreibigs erster Prager Aufführung am 16. 4. 1876 auf (Kammermädchen Fleuretta, Moreto–West: Donna Diana). 

Sie wirkte anfangs ein wenig unsicher, entwickelte sich aber in kurzer Zeit zu einer der ausdrucksvollsten Schauspielerinnen ihres Fachs in Prag. Mehrmals wurde ihr ein anderes Engagement angeboten (z. B. 1883 in der deutschen Gesellschaft von Gustav Amberg am New Yorker Thalia-Theater). Sie ergriff jedoch keine dieser Möglichkeiten, obwohl sie im Lauf der Zeit in Prag eine Reihe von Konkurrentinnen ähnlichen Schauspielertyps hatte und nicht voll beschäftigt war. B. blieb Mitglied des Prager Ensembles unter der Familie Kreibig (1876−1885), danach wurde sie in Angelo Neumanns Ensemble aufgenommen (1885), in dem sie bis 1896 verblieb. Anschließend beendete sie ihre Theaterkarriere (letzte Rolle: Edrita / Grillparzer: Weh’ dem, der lügt) und heiratete den Prager Industriellen und Mäzen Alexander Richter (sie war seine zweite Frau). Nach seinem Tod lebte sie in Prag in bescheidenen Verhältnissen und pflegte weiterhin Kontakte zum Theater.

Innerhalb von zwanzig Jahren studierte B. Dutzende Rollen ihres Fachs ein und trat auch in zahlreichen Kleinst- und Nebenrollen auf. Lange behielt sie ihr mädchenhaftes Aussehen und dadurch auch ihren ursprünglichen Rollenkreis jugendlicher Charaktere. Auf diesem Gebiet konnte sie sehr unterschiedliche Figuren verkörpern, von „treuherzigen Mädchen der hausbackenen Schauspielposse, in die ahnungsvollen, leicht zur Leidenschaft überspringenden Naiven der französischen Komödien und in die kernigen Mädchen-Charaktere des klassischen Lustspiels“ (Teuber III., 721).

Der strenge und belehrte Kritiker Alfred Klaar begrüßte 1876 ihr Engagement mit höflicher Zurückhaltung, widmete ihren Leistungen später aber ungewöhnliche Aufmerksamkeit und veröffentlichte in der Bohemia im Rahmen von Kritiken eine Reihe kurzer Analysen. Zu ihren markanten Rollen zählten: Klaus´ Tochter / L’Arronge: Doctor Klaus (seit 1879, tschechisch als Doktor Kalous); Jeanne / Jermann: Lady Tartuffe (nach der franz. Vorlage von Delphine de Giardin, seit 1879); Fauchon Vivieur / Birch-Pfeiffer: Die Grille (nach dem Roman La petite Fadette von George Sand, seit 1880, tschechischer Titel des Romans Cvrček detektiv) und Franziska / Lessing: Minna von Barnhelm.

In den 1890er Jahren trat sie auch in Charakterrollen auf, unter denen Hannele, die Titelfigur in Gerhart Hauptmanns Theaterstück (Prager Premiere 1894), die bedeutendste war. Ihr Ehemann Alexander Richter (7. 12. 1843 Cheb / Eger – 29. 11. 1914 Prag), ein Industrieller, stammte aus der zweiten Generation einer wohlhabenden Familie. Sein Vater Franz Richter (1808) betrieb im damaligen Prager Vorort Smíchov eine Weberei. R. studierte in Prag und wurde zu einer der führenden Persönlichkeiten der Prager deutschen Gesellschaft. Er war im Bankwesen tätig, gehörte dem Stadtrat von Smíchov an und war, ab 1883, Landtagsabgeordneter. Er wurde mehrmals, auch im Ausland, ausgezeichnet, war Mitglied von einflussreichen Prager Vereinen und setzte sich für das Prager deutsche Schulwesen ein. Er gehörte zu den Gründern des Deutschen Theatervereins (1883) und war ständiges Vorstandsmitglied.

1885 kaufte er für das Neue deutsche Theater ein Grundstück und erwarb sich durch Geldsammlungen große Verdienste um dessen Errichtung, indem er die deutschsprachigen Gebiete Böhmens bereiste und sein Ansehen als bekannte Persönlichkeit in den Dienst der Sache stellte. Später subventionierte er das Gebäude großzügig, um dessen technischen Zustand zu verbessern. Er betrachtete das Theater gemäß den Intentionen Josefs II. als künstlerische Einrichtung, deren Aufgabe es sei, Geschmack und Moral zu heben. Unter den in Prag herrschenden Bedingungen der Nationalitätenkonkurrenz bemühte er sich darum, dass die deutsche Bühne die Traditionen der einheimischen deutschen Kultur auf hohem Niveau fortsetzen konnte.

Quellen

Bichler:

Conscription 1850–1914, Národní archiv Praha (Bichler: Reisepass, heraus. Klagenfurt 22. 2. 1879).  

Almanach für Freunde der Schauspielkunst, Berlin 1846–1853

Deutscher Bühnen-Almanach, Berlin 1854–1873

Richter: Conscription 1850–1914, Národní archiv Praha

Anonym: Rubrik Theater und Kunst : Alexander Richter und das Deutsche Theater, Bohemia 6. 12. 1913 (zum 70. Geburtstag).

Nekrolog  Neue freie Presse 30. 11. 1914, Prager Tagblatt 30. 11. 1914

Literatur

Bichler:

O. Teuber: Geschichte des Prager Theaters. Von den Anfängen des Schauspielwesens bis auf die neueste Zeit, III, Prag 1888, Bichler: 700, 703, 704, 720-721, 741, 747, 753, 772,  775, 787, 789, 809, 810, 847

R. Rosenheim: Die Geschichte der deutschen Bühnen in Prag 1883–1918. Mit einem Rückblick 1783–1883, Prag 1938, S. 28, 43, 82, 87, 111, 117, 125.

W. Binal: Deutschsprachiges Theater in Budapest, Von den Anfängen bis zum Brand des Theaters in der Wollgasse (1889), Graz-Wien-Köln 1972, Kommissionsverlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Elise Quandt-Bichler, 271, 281, 289, 310, 313, 332)

Biographien (Bichler): Der Humorist, Wien 20. 10. 1885; Prager Theaterbuch, Prag  1930, S. 32 .

Eisenberg, Flüggen, ÖBL (in A. Richter)ODS, Oppenheim

Richter:

O. Teuber: Geschichte des Prager Theaters. Von den Anfängen des Schauspielwesens bis auf die neueste Zeit, III, Prag 1888, S. 796, 837, 842

F. Hantschel: Biographien deutscher Industriellen aus Böhmen, 1920, S. 60.

ÖBL

Biographien

Bichler:

Der Humorist, Wien 20. 10. 1885; Prager Theaterbuch, Prag  1930, s. 32 .

Richter:

Rosenheim (lit.), s. 74


Bildung: 30.11.2012

Autor: Ludvová, Jitka